Frankfurter Rundschau 01.06.2003
BAD NAUHEIM. Simons Stimme klingt sehr stolz. „Carola, ich hab den Bollerwagen ganz allein hierher gezogen“, sagt der Fünfjährige zu seiner Erzieherin. In dem Wagen ist das Material, das die Kindergartengruppe zum Gestalten ihres Vormittags in freier Natur benötigt. Heute ist Projekttag und es gilt, die Steine, die als Markierung für die Plätze der Kinder beim morgendlichen Begrüßungsritual dienen, neu zu bemalen. In der kleinen Runde sitzen die Kinder im lockeren Kreis, auf Baumstümpfen oder umgefallenen Stämmen, und befragen sich gegenseitig, wie es ihnen geht. In dieser „Befindlichkeitsrunde“ fällt auch schon mal die Aussage „nicht so gut“. Ob der Grund dafür Bauchweh oder einfach nur durchwachsene Laune ist – um Kinder, denen es mal nach eigener Einschätzung nicht so gut geht, kümmern sich die beiden Erzieher Carola Golden und Michael Wallenfels des Waldkindergartens Wurzelpurzel etwas intensiver. Die Zeit dazu haben sie, denn die Größe der Gruppe ist auf maximal 20 Kinder begrenzt. Und sind die Kinder erst im Wald unterwegs, spielen sie ohnehin meist in kleinen Gruppen. Das Prinzip der Selbstbestimmung wird in dem von einigen engagierten Eltern gegründeten Waldkindergarten groß geschrieben. Das beginnt schon mit der Auswahl des Orts, an dem die Kinder den Vormittag verbringen wollen. Aus mehreren Vorschlägen wählen die Kinder demokratisch aus – und bewegen sich schon dabei: Für die einzelnen Ziele gibt es unterschiedliche Sammelpunkte. Zu dem Ziel, an dessen Sammelpunkt die meisten Kinder stehen, wird losmarschiert. Das System scheint zu funktionieren, auch die Kinder, die eigentlich einen anderen Ort gewählt hatten, folgen, ohne zu murren. „Die Kinder werden viel kompetenter“, hat Michael Wallenfels beobachtet. Die Hilfsbereitschaft scheint auch zu wachsen: Beim Aufsammeln der Markierungssteine helfen die Kinder ebenso eifrig mit wie später bei den Vorbereitungen für das Bemalen. Die sechsjährige Melina ist das dienstälteste Kind im Waldkindergarten. Mit zweieinhalb Jahren kam sie zum ersten Mal regelmäßig in den Wald. Ihre Eltern haben beobachtet, dass Melina seitdem kaum mehr krank geworden ist. Das Mädchen ist kein Einzelfall. „Das erste Jahr ist für manche Kinder oft hart, weil sich das Immunsystem erst an das Draußensein anpassen muss“, sagt Golden. Bei Wind und Wetter ist die Gruppe unterwegs. Das ist den Regenjacken und Matschhosen der Kinder anzusehen. Die Kleidung sieht noch so aus wie nach dem gestrigen Spiel und kommt erst am Ende der Woche in die Waschmaschine. Berührungsängste haben die Kinder mit dem Wald offenbar nicht mehr. „Schau mal, was ich gefunden habe“, sagt die dreijährige Tamina zu ihren Erziehern. äste, Steine und sonstiges Naturmaterial schleppen die Kinder an. Ausgefallene Dinge, die sie teilweise sammeln und in anderen Projekten verarbeiten.
HINTERGRUND
Wurzelpurzel mit festem Wochenplan
Mit einer Gruppe von acht Kindern fing die Geschichte des Waldkindergartens Wurzelpurzel 1999 an. Damals leiteten die Gründer des Elternvereins Wurzelpurzel die kleine Gruppe noch ehrenamtlich. Heute ist der Kindergarten längst zu einer anerkannten Einrichtung geworden, die von der Stadt Bad Nauheim bezuschusst wird wie andere Kindergärten auch. Die Kapazität ist auf 20 Kinder beschränkt. Die kleine Gruppe geht bei jedem Wetter in den Wald – laut den zwei beschäftigten Erziehern ist den Kindern Matschwetter mit viel Regen oft lieber als trockenes Wetter. Nur bei Sturmwarnungen ziehen sie sich aus Sicherheitsgründen in ihren alten Zirkuswagen am Gelände des Flugplatzes zurück. In diesem Jahr mussten Kinder und Erzieher laut Michael Wallenfels kein einzige Mal von dieser Notlösung Gebrauch machen. Häufiger wurde jedoch eine sechs mal sechs Meter große Regenplane aufgespannt und auch Wanderhütten dienen der Gruppe hin und wieder als Unterschlupf, wenn die Kleidung nach stundenlangem Regen durchzuweichen droht. Im Sommerhalbjahr werden die Kinder zwischen 8.30 und 12.30 Uhr betreut. Im Winter sind sie dagegen wegen der kalten Witterung nur drei Stunden im Wald unterwegs. Zum Schutz der Kinder gelten feste Regeln: Sie müssen stets in Sicht- und Hörweite der Erzieher bleiben. Nur etwas erfahrere Kinder dürfen in Vierergruppen kleinere Exkursionen unternehmen. Sie sind mit einer Trillerpfeife ausgestattet und kommunizieren über eine Signalsprache mit den Erziehern. Weil der Bewegungsraum im Wald nahezu unbeschränkt ist, geben den Kindern Rituale und Regeln den Halt, den sie sonst möglicherweise vermissen würden. Auch der Wochenverlauf ist strukturiert. Montags können die Kinder ein Spielzeug ihrer Wahl mitbringen, dienstags bis donnerstags widmen sie sich Projekten, freitags ist Wandertag. Laut Beate Faust vom Elterverein Wurzelpurzel sind derzeit zwei noch Plätze frei.